Klarnamenpflicht und Überwachungsstaat oder Grundrecht auf Anonymität und Anarchie? Die Debatte über Anonymität im Netz kommt nicht voran. Dabei ist die Lösung des Problems von zentraler Bedeutung – für die Zukunft des Internets und der Gesellschaft. Von Stefan Herwig Das IEM moechte die Setzung von ordnungspolitischen Rahmenbedingungen fuer das Internet anregen.
Annegret Kramp-Karrenbauer ist nicht Angela Merkel. Die Art, wie die CDU-Vorsitzende versucht hat, eine Debatte zu initiieren, und gleichzeitig massiv Trefferfläche für Kritik bot, unterscheidet sich fundamental von der ausweichenden Kommunikationsstrategie der Bundeskanzlerin. Merkel bot nie so bereitwillig mediale Trefferfläche wie ihre mögliche Nachfolgerin in den letzten Wochen. Sie hat allerdings kaum je versucht, Debatten zu initiieren.
Auch wenn Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Thesen zur journalistischen Verantwortlichkeit von Internet-Influencer-Kanälen, wie sie etwa der Youtuber Rezo betreibt, oder zur Anonymität von Internetkommunikation hätte trennschärfer formulieren müssen, ist beiden Themen eines gemeinsam: Sie müssen gesellschaftlich und politisch dringend diskutiert werden. Es geht um das Austarieren von Verantwortung und Rechtsstaatlichkeit im Internet; es geht um Hassrede, Fake News und Internetkriminalität. Und es stellt sich die Frage, wie die Rolle und die Mitverantwortung der Online-Plattformen zu benennen ist, auf denen diese Kommunikation massenhaft stattfindet.
Vor wenigen Tagen erschien in der „Deutschen Richterzeitung“, einem juristischen Fachmagazin des C.H. Beck-Verlages, die Neuauflage eines Evergreeens: eine Pro-und-Contra-Positionierung zweier Politiker zum Thema Anonymität im Netz. Auf der einen Seite findet sich Günther Krings (CDU), Staatssekretär im Innenministerium, mit der Forderung, auf Social-Media-Plattformen endlich sinnvolle Diskussionsregeln einzuführen und eine Klarnamenpflicht für Debatten einzuführen. Auf der anderen Seite steht der grüne Fraktionsvize Konstantin von Notz, der das Gegenteil fordert. Er verweist darauf, dass die Debatte um eine Klarnamenpflicht seit zehn Jahren ergebnislos geführt werde, und fordert, die Verschlüsselungspflicht für Online-Kommunikation zu stärken. Beiden Positionen ist gemein, dass sie nicht zufrieden sind, wie wir Verantwortung und Anonymität im Netz behandeln.
Es erstaunt, dass diese wichtige Debatte auf Extrempositionen festgefroren zu sein scheint, angesichts des Umstands, dass Themen wie effiziente Verantwortlichkeitszuweisung, Rechtsstaatlichkeit, Überwachung, Datenschutz in den letzten fünf Jahren immer dringlicher geworden sind. Spätestens seit den Enthüllungen Edward Snowdens im Jahr 2013 wissen wir, dass das Netz eine dunkle Seite hat und eine Überwachungsmaschine sein kann. Trotzdem ist die Politik kaum vorangekommen. Die einen fordern mehr Sicherheit, die anderen mehr Privatsphäre – als ob das eine das andere grundsätzlich ausschlösse.
Das Netz muss beides bieten können: Privatsphäre und Verantwortung. Aber zwischen den Positionen „Sicherheit“ und „Freiheit“ lässt sich nicht eine waagerechte Linie ziehen, anhand der man die Höhe justieren kann wie den Wasserstand in einem Aquarium, nach dem Motto: Drei Zentimeter mehr Sicherheit ergibt drei Zentimeter weniger Freiheit.
Werfen wir einen Blick darauf, wie wir Anonymität und Verantwortung in anderen gesellschaftlichen Räumen verankert haben – etwa dem Straßenverkehr. Heute erscheinen uns die Verhaltensregeln im Straßenverkehr logisch und verhältnismäßig. Dabei wurde allein acht Jahre lang erbittert um die bußgeldbewährte Anschnallpflicht gestritten. Der Gesetzgeber hat mehr als siebzig Jahre gebraucht, bis er den motorisierten Straßenverkehr als gesellschaftlichen Raum so effizient reguliert hatte, dass die einst katastrophalen Unfallzahlen gesenkt werden konnten, die 1969 in der Bundesrepublik bei mehr als 20000 Verkehrstoten und mehr als einer Million Verletzten lagen. Die hohen Zahlen waren eine Spätfolge der in den fünfziger und sechziger Jahren durch das Wirtschaftswunder massiv einsetzenden Individualmotorisierung. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen waren erheblich, aber irgendwann bekam der Gesetzgeber die Kurve. Heute haben wir weniger als 4000 Tote im Straßenverkehr pro Jahr zu beklagen, trotz einer dreifach höheren Verkehrsdichte.
Was lehrt uns der Straßenverkehr über Anonymität und Verantwortung? Im Straßenverkehr sind wir weder flächendeckend anonym, noch sind wir immer mit Klarnamen unterwegs. Wir bewegen uns anonym als Fußgänger oder Radfahrer. Bei Pkw und den meisten anderen motorisierten Fortbewegungsmitteln sind wir „pseudonymisiert“, also über ein Pseudonym zu erkennen – ein Kennzeichen gibt Aufschluss über den Halter des Fahrzeugs, durch den zumeist auf den Fahrer geschlossen werden kann. Eine Möglichkeit, der Pseudonymisierung durch das Kennzeichen zu entgehen, gibt es nur in Ausnahmefällen. Die Unterteilung in pseudonymisierte und anonyme Verkehrsteilnehmer hat einen Grund: Bei motorisierten Verkehrsteilnehmern ist das Risiko eines Unfalls mit erheblichem Schaden für Dritte und an Fahrzeugen deutlich höher. Das Risiko von Handlungen ist also ein Faktor beim Austarieren von Anonymität und Verantwortung. Je mehr Risiko eine Handlung birgt, desto weniger sollte der Handelnde anonym sein. Davon profitiert die gesamte Gemeinschaft. Warum sollte das Im Internet anders sein?
Eine zweite wichtige Unterscheidung, um im Netz Anonymität und Verantwortung gegeneinander abzuwägen, ist ein Kriterium, das unsere Gesellschaft so stark verinnerlicht hat, dass es uns kaum noch gewahr wird: die Unterscheidung von Handlungsorten in öffentliche und private Räume. Die Unterscheidung von res privata und res publica im römischen Recht, auf der unser Rechtssystem beruht, erschuf erst die Republik als Grundlage des demokratischen Gemeinwesens. Im Netz jedoch laufen die Funktionen von öffentlichen und privaten Räumen komplett durcheinander: Wir haben keine funktionierende Privatsphäre im Netz und keinen Datenschutz, zugleich ist die Rechtsstaatlichkeit schwer durchzusetzen. Im Netz ist die latente Störung der öffentlichen Ordnung fast der Normalfall. Die Hasstiraden, die nach dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke kursierten, geben dafür ein aktuelles Beispiel.
Die eingangs erwähnten Politiker Günther Krings und Konstantin von Notz kommen in der Sache vor allem deswegen nicht auf einen gemeinsamen Nenner, weil der eine nur über Sicherheit im öffentlichen Raum, der andere nur von der Integrität privater Kommunikation spricht. Innerhalb ihres Textes haben beide recht: Der öffentliche Raum benötigt mehr Transparenz und Verantwortungszuweisung für ein funktionierendes Gemeinwohl, während privates Handeln und private Kommunikation im Netz besser geschützt sein müssen. In der analogen Welt greift bei Polizeieinsätzen ein Rechtskonzept wie die „Unverletzlichkeit der Wohnung“. Im Online-Recht unterscheiden wir bislang kaum zwischen privaten und öffentlichen Räumen. Das aber wäre ein wichtiger Baustein für einen sinnvollen Ausgleich zwischen Anonymität und Verantwortung im Netz: dass öffentliches Handeln tendenziell transparenter sein muss, privates Handeln dagegen geschützter.
Schaut man auf das Netz und die Verantwortung der Online-Plattformen, stellt man schnell fest, dass von diesen viel zu wenig gefordert wird. Das Telemediengesetz, das in seinen Grundzügen aus dem Jahr 1999 stammt, erlaubt Plattformen prinzipiell, ihre Nutzer zu anonymisieren oder zu pseudonymisieren, unabhängig von Größe, Reichweite oder Ausrichtung der Plattform. Zugleich muss die Plattform für Rechtsverletzungen ihrer Nutzer nicht haften, sofern sie diese bei Kenntnis irgendwann löscht. Die Plattformen genießen eine umfangreiche Haftungsfreistellung für die Handlungen ihrer Nutzer, dürfen diesen aber Anonymität verschaffen.
Diese juristischen Privilegien haben die digitalen Plattformen nicht nur in Sachen Haftung subventioniert. Sie haben maßgeblich dazu beigetragen, dass in Rekordgeschwindigkeit Mega-Unternehmen heranwuchsen. Deren mangelnde Haftbarkeit übt eine toxische Wirkung auf die Gesellschaft aus. Für Fake News, Hate Speech und andere Plattform-Probleme werden Konzerne wie Facebook und Twitter oder Streamingdienste wie Youtube erst in jüngerer Zeit mitverantwortlich gemacht, das Telemediengesetz hat sie vor einer durchgreifenden Haftung bislang bewahrt. Um dem digitalen Fallout, also dem gesellschaftlichen Schaden, den Empfehlungsalgorithmen und anonyme Kommunikation anrichten, müssen sich Staatsanwaltschaften, Recherchekollektive oder die direkt Betroffenen kümmern.
„Es ist eigentlich verrückt, dass man das noch sagen muss, aber wenn jemand eine Chaos-Fabrik erschafft, dann kann er die Verantwortung für das von ihm angerichtete Chaos nicht einfach ablehnen“, sagte der Apple-CEO Tim Cook kürzlich bei einem Vortrag in der Stanford-Universität. Er hob hervor, wie wichtig es sei, dass die Digitalkonzerne sich endlich ihrer Verantwortung stellen und aufhören, systematisch die Privatsphäre ihrer Nutzer auszuhöhlen. Dass die Plattformen ihre Nutzer für alle anderen im öffentlichen Raum anonymisieren, während sie diese parallel ausspähen, zeigt, dass die Dinge dringend justiert werden müssen.
Die EU-Kommission in Brüssel wird in Kürze wohl eine Diskussion über die Öffnung der sogenannten E-Commerce-Richtlinie beginnen, des Regelwerks, das eine Richtlinienfunktion für das deutsche Telemediengesetz besitzt. Es war ein Fehler, dieses nicht bereits in der letzten Legislaturperiode zu überarbeiten. Die digitalen Plattformen sollten nicht länger von einer Haftungssubventionierung profitieren, während sie ihren Nutzern flächendeckend Anonymität verschaffen. Sinnvoll wäre, die Haftungsprivilegierung an eine Pseudonymität der Nutzer zu koppeln und die Plattformen für Nebenpflichten heranzuziehen. Mit großer Reichweite muss größere Verantwortlichkeit für die digitale Kommunikation einhergehen. Und zwar nicht erst in siebzig Jahren.
Der Autor betreibt mit „Mindbase“ einen netzpolitischen Thinktank und als Netzpolitikexperte eine Beratungsagentur für netzpolitische Fragestellungen.