„Wir brauchen dringend langfristiges, strategisches Denken“

zu Henry Kissinger´s 100sten Geburtstag

Wir gratulieren heute Henry Kissinger, geboren am 27. Mai 1923 in Fürth/Bayern.
Er wird sehr verehrt von vielen, insbesondere den Freunden des dortigen Ludwig-Erhard-Zentrums (LEZ) und manch anderen Zeitgenossen, die den US-Diplomaten, politischen Harvard-Gelehrten, Berater zweier US-Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford, Professor an der Georgetown University und Friedens-Nobel-Preis-Träger erleben durften. Der Autor dieser Zeilen war sein Schüler 1978/79 an der Georgetown University, School of Foreign Service.

Zu seinem heutigen 100sten Geburtstag veröffentlicht die Zeitschrift „The Economist“ die Niederschrift eines 8-stündigen Interviews in New York (siehe The Economist May 20th 2023, p. 17-20).

Er gibt insbesondere uns Europäern einige gute Ratschläge mit auf den Weg, auch wenn er – wie er scherzhafterweise sagt – dies vielleicht gar nicht mehr erleben wird.

Erstens: “Erkennen Sie, wo Sie stehen. Erbarmungslos.”
Kissinger, der nie ein Fan von bürokratischer Politik war, würde es begrüßen, wenn eine kleine Gruppe von Beratern, die leichten Zugang zueinander haben, stillschweigend zusammenarbeiten würde.

Der zweite Ratschlag Kissingers an die aufstrebenden Führer lautet: “Definieren Sie Ziele, die die Menschen mitreißen können. Finden Sie Mittel, beschreibbare Mittel, um diese Ziele zu erreichen”.

Viele Gedanken im Interview kreisen um den Konflikt USA/China.
Bei der Analyse des Krieges Russlands gegen die Ukraine sagt er auch Wichtiges zu Europa:

Kissinger beginnt mit einer Verurteilung des russischen Präsidenten, Wladimir Putin. “Es war sicherlich eine katastrophale Fehleinschätzung Putins am Ende”, sagt er. Aber der Westen ist nicht ohne Schuld.  „Ich denke, dass die Entscheidung, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato offen zu lassen, sehr falsch war.”

Das war destabilisierend, denn mit dem Versprechen des Nato-Schutzes ohne einen Plan, wie dieser Schutz zustande kommen sollte, war die Ukraine schlecht verteidigt, und das hat nicht nur Putin, sondern auch viele seiner Landsleute verärgert.

Die Aufgabe besteht nun darin, den Krieg zu beenden, ohne den Boden für die nächste Runde des Konflikts zu bereiten. Kissinger sagt, er wolle, dass Russland so viel wie möglich von dem 2014 eroberten Gebiet abgibt, aber die Realität ist, dass Russland bei einem Waffenstillstand wahrscheinlich zumindest Sewastopol (die größte Stadt auf der Krim und Russlands wichtigster Marinestützpunkt am Schwarzen Meer) behalten wird. Eine solche Einigung, bei der Russland einige Gewinne einbüßt, andere aber behält, könnte sowohl ein unzufriedenes Russland als auch eine unzufriedene Ukraine hinterlassen.

Seiner Ansicht nach ist das ein Rezept für künftige Konfrontationen.

“Was die Europäer jetzt sagen, ist meiner Meinung nach wahnsinnig gefährlich”, sagt er. “Denn die Europäer sagen: ‘Wir wollen die Ukraine nicht in der NATO haben, weil es zu riskant ist. Und deshalb werden wir sie aufrüsten und ihnen die modernsten Waffen geben.'”

Sein Fazit ist eindeutig: “Wir haben die Ukraine jetzt so weit aufgerüstet, dass sie das am besten bewaffnete Land mit der strategisch am wenigsten erfahrenen Führung in Europa sein wird.”

Um einen dauerhaften Frieden in Europa zu schaffen, muss der Westen zwei Sprünge der Vorstellungskraft machen:

  • der erste besteht darin, dass die Ukraine der NATO beitritt, um sie sowohl zu bändigen als auch zu schützen.
  • der zweite besteht darin, dass Europa eine Annäherung an Russland herbeiführt, um so eine stabile Ostgrenze zu schaffen.

Viele westliche Länder würden sich verständlicherweise gegen das eine oder andere dieser Ziele sträuben. Mit China, einem Verbündeten Russlands und Gegner der NATO, wird die Aufgabe noch schwieriger werden. China hat ein übergeordnetes Interesse daran, dass Russland unversehrt aus dem Krieg in der Ukraine hervorgeht. Nicht nur, dass Xi eine “grenzenlose” Partnerschaft mit Putin einzuhalten hat, sondern ein Zusammenbruch Moskaus würde China in Schwierigkeiten bringen, da ein Machtvakuum in Zentralasien entstehen würde, dass durch einen “Bürgerkrieg nach syrischem Vorbild” gefüllt werden könnte.

Die Chinesen haben sich in der Ukraine-Diplomatie als Ausdruck ihrer nationalen Interessen engagiert, so Kissinger. Obwohl sie die Zerstörung Russlands ablehnen, erkennen sie an, dass die Ukraine ein unabhängiges Land bleiben sollte, und sie haben vor dem Einsatz von Atomwaffen gewarnt. Sie könnten sogar den Wunsch der Ukraine akzeptieren, der NATO beizutreten. “China tut dies zum Teil, weil es sich nicht mit den Vereinigten Staaten anlegen will”, sagt er. “Sie schaffen ihre eigene Weltordnung, soweit sie das können.”

Mit einem Auge auf die diplomatischen Manöver, die im 19. Jahrhundert mehr oder weniger den Frieden bewahrten, blickt er auf Großbritannien und Frankreich, um den Vereinigten Staaten zu helfen, strategisch über das Gleichgewicht der Kräfte in Asien nachzudenken.

„Wir brauchen dringend langfristiges strategisches Denken.”

Das ist unsere große Herausforderung, die wir lösen müssen. Wenn wir das nicht tun, werden sich die Vorhersagen des Scheiterns bewahrheiten.”

“Ich denke, es ist möglich, eine Weltordnung auf der Grundlage von Regeln zu schaffen, denen sich die USA, Europa, China und Indien anschließen könnten, und das ist bereits ein guter Teil der Menschheit. Wenn man es also praktisch betrachtet, kann es gut ausgehen oder zumindest ohne Katastrophe enden und wir können Fortschritte machen.”

Die führenden Politiker der Welt tragen daher eine große Verantwortung. Sie brauchen

  1. den Realismus, um sich den Gefahren zu stellen, die vor ihnen liegen,
  2. die Vision, um zu erkennen, dass eine Lösung in der Herstellung eines Gleichgewichts zwischen den Streitkräften ihrer Länder liegt, und
  3. die Zurückhaltung, um ihre Offensivkräfte nicht bis zum Äußersten auszuschöpfen.

“Dies ist eine noch nie dagewesene Herausforderung und eine große Chance”, sagt Kissinger. Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, dass wir es richtig machen“.

Sie können das ganze Interview unter economist.com/kissinger-podcast hören. Eine Mitschrift des Interviews finden Sie unter economist.com/kissinger-transcript.

27.Mai 2023

Stephan Werhahn, Vorsitzender des IEM

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Sunday: Freshly printed Economist & freshly brewed coffee.

 

"WE URGENTLY NEED LONG-TERM, STRATEGIC THINKING"

Today we congratulate Henry Kissinger, born on 27 May 1923 in Fürth/Bavaria.
He is greatly revered by many, especially the friends of the Ludwig Erhard Centre (LEZ) there and many other contemporaries who experienced the US diplomat, Harvard political scholar, advisor to two US Presidents Richard Nixon and Gerald Ford, professor at Georgetown University and Nobel Peace Prize winner. The author of these lines was his student in 1978/79 at Georgetown University, School of Foreign Service. 

For his 100th birthday today, The Economist magazine publishes the transcript of an 8-hour interview in New York (The Economist May 20th 2023, p. 17-20, see below).

He gives some good advice to us Europeans in particular, even though – as he jokingly says – he may not live to see it.

First, “Realise where you stand. Mercilessly.”
Kissinger, who has never been a fan of bureaucratic politics, would like to see a small group of advisers who have easy access to each other work together quietly.

Kissinger’s second piece of advice to emerging leaders is: “Define goals that can carry people along. Find means, describable means, to achieve those goals”.

Many thoughts in the interview revolve around the US/China conflict. When he talks about Russia’s war against Ukraine, he also says something important for Europe:

Kissinger begins with a condemnation of the Russian president, Vladimir Putin. “It was certainly a catastrophic miscalculation by Putin in the end,” he says. But the West is not without blame.  “I think the decision to leave Ukraine’s membership of NATO open, was very wrong.”

It was destabilising, because with the promise of NATO protection without a plan for how that protection would come about, Ukraine was poorly defended, and that angered not only Putin but many of his countrymen.

The task now is to end the war without preparing the ground for the next round of conflict. Kissinger says he wants Russia to cede as much as possible of the territory it captured in 2014, but the reality is that in a ceasefire Russia is likely to keep at least Sevastopol (the largest city in Crimea and Russia’s main naval base on the Black Sea). Such a settlement, in which Russia forfeits some gains but keeps others, could leave both a discontented Russia and a discontented Ukraine.

In his view, this is a recipe for future confrontations.

“What the Europeans are saying now is, in my opinion, insanely dangerous,” he says. “Because the Europeans are saying, ‘We don’t want Ukraine in NATO, because it’s too risky.’ And that’s why we’re going to arm them and give them the most modern weapons.'”

His conclusion is clear: “We have now upgraded Ukraine to the point where it will be the best armed country with the least strategically experienced leadership in Europe.”

To create a lasting peace in Europe the West must take two leaps of imagination:

  • the first is for Ukraine to join NATO in order to both restrain and protect it. 
  • the second is for Europe to bring about a rapprochement with Russia in order to create a stable eastern border.

Many Western countries would understandably resist one or the other of these goals. With China, an ally of Russia and an opponent of NATO, the task will be even more difficult. China has an overriding interest in Russia emerging unscathed from the war in Ukraine. Not only does Xi have to maintain a “borderless” partnership with Putin, but a collapse of Moscow would put China in trouble by creating a power vacuum in Central Asia that could be filled by a “Syrian-style civil war”.

The Chinese have engaged in Ukraine diplomacy as an expression of their national interests, Kissinger said. Although they reject the destruction of Russia, they recognise that Ukraine should remain an independent country, and they have warned against the use of nuclear weapons. They might even accept Ukraine’s desire to join NATO. “China is doing this partly because they don’t want to mess with the United States,” he says. “They are creating their own world order as far as they can.”

With an eye on the diplomatic manoeuvres that more or less kept the peace in the 19th century, he looks to Britain and France to help the United States think strategically about the balance of power in Asia.

“We desperately need long-term strategic thinking.”

That is our big challenge to solve. If we don’t, the predictions of failure will come true.”

“I think it is possible to create a world order based on rules that the US, Europe, China and India could join, and that is already a good part of humanity. So if you look at it practically, it can end well or at least end without disaster and we can make progress.”

World leaders therefore have a great responsibility. They need

  1. the realism to face the dangers ahead,
  2. the vision to realize that one solution lies in achieving a balance between their countries’ armed forces, and
  3. the restraint not to exhaust their offensive powers to the limit.

“This is an unprecedented challenge and a great opportunity,” says Kissinger. The future of humanity depends on us getting it right.”

You can listen to the interview at economist.com/kissinger-podcast.
For a transcript of the interview, go to economist.com/kissinger-transcript.

May 27th, 2023

Stephan Werhahn, Chairman of the IEM 

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