Die Corona-Pandemie ist auch ein Stresstest für Europa

Ein Plädoyer für mehr Subsidiarität statt totalitärer zentralstaatlicher Lenkung von Dr. Ulrich Horstmann

Es geht hier nicht darum, die gesundheitlichen Gefahren durch den Corona-Virus zu verharmlosen. Es ist nach den Urteilen der überwiegenden Zahl der medizinischen Experten richtig gewesen, dass man entschlossen handelte, nachdem die Regierungen in den EU-Staaten lange gezögert hatten. Ob dabei jedoch ganze Gesellschaften und ihr Wirtschaftsleben lahmgelegt werden mussten, war sicherlich nicht alternativlos. Eine gezielte „Sicherung“ der besonders gefährdeten Bevölkerungsgruppen – Ältere und Personen mit schwerwiegenden Erkrankungen – erfolgte nämlich nicht. Das ist kaum nachvollziehbar. Hinzu kam, dass der zwischenstaatliche Personen-Grenzverkehr in der EU weitgehend blockiert wurde. Ob das angemessen war, werden wir erst später beurteilen können. Richtig ist auf jeden Fall, dass alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu treffen sind, auch zur Abwehr von zukünftigen Pandemien. Manche Panikberichterstattung in den öffentlich-rechtlichen Medien erweckte jedoch zwischenzeitlich den Eindruck, als handele es sich um einen weltauslöschenden »Killervirus«, der Erinnerungen an schlecht gemachte Horrorfilme weckte.

Es schien, als holte uns die Realität ein. Ich habe selten so viele extrem verängstigte Menschen gesehen. Irgendwann sollte unser Leben aber wieder normal führbar sein, oder wird der in vielen Staaten verordnete ›Ausnahmezustand‹ zur neuen Normalität? Findet ein Staatsstreich der Exekutive statt, der schleichend vorbereitet wurde und sich jetzt beschleunigt?

Wir spüren wohl alle, dass sich die uns bekannte Welt gerade radikal verändert. Freiheit scheint für unsere vermeintlich höhere körperliche Sicherheit geopfert zu werden. ›Gelegenheit macht Freiheitsdiebe‹ (Gerald Mann). Der Virus könnte den geistigen Nährboden für ein ›totalitäres Verbotsregime‹ verstärken. Ab wann wäre es ausreichend begründet, von einer ›Gesundheitsdiktatur‹ zu sprechen, vor der Juli Zeh in ihrem Roman ›Corpus delicti: Ein Prozess‹, der bereits 2009 erschien, warnte? Wird fair berichtet oder unsere Aufmerksamkeit so gelenkt, dass über Alternativen zu den harten staatlichen Maßnahmen gar nicht mehr diskutiert wird?

Die Reduzierung bis hin zur Abschaffung von (Grund-)Rechten und eine dauerhafte digitale Überwachung werden durch Gewöhnung daran vielleicht schon bald als normal empfunden. Das wäre dann ›Orwell 2.0 live‹ - oder noch schlimmer. Im seinem Roman ›1984‹ wusste Winston Smith noch, dass das System, geführt vom ›Großen Bruder‹ sein Gegner war, der ihm sein Gehirn waschen lässt. Diese kritische Reflexion scheint heute zu fehlen. Gutmenschlich verpackt werden Zwangsmaßnahmen akzeptiert, die noch vor Monaten undenkbar erschienen. Die Erfahrungen der ›Alten‹ aus der NS-Zeit sind weitgehend verblasst, auch ihre warnenden Erzählungen. Mich haben sie geprägt. Mein inzwischen verstorbener Vater sah schon in den siebziger Jahren die freiheitseinschränkenden und lenkenden fiskalischen Eingriffe unserer Regierungen im Bund und Land Nordrhein-Westfalen als völlig überzogen an. Und er war überrascht, dass die Jugend, die absehbar enteignet würde, nicht auf die Straße ging. Auch das DDR-Regime, inzwischen seit einer Generation überwunden, schien nie mehr in renovierter Form als »DDR 2.0« (Max Otte) auferstehen zu können. Totalitäre Zwangsregime schienen weit entrückt.

Moderne Überwacher nutzen geschickt die Ängste, die sie zum größten Teil selbst geschürt haben, indem sie die Voraussetzungen hierfür erst geschaffen haben So könnte eine verpflichtende ›Anti-Corona-App‹ kommen, mit maßlosen und dauerhaften Beschränkungen der Freiheit - wie sie derzeit bereits in Frankreich flächendeckend gelten, obwohl einige Regionen kaum von dem Virus betroffen sind.

Der Wettbewerb der Länder in Deutschland ist dagegen belebend. Kanzlerin Merkel würde die Bekämpfung gerne zur Chefsache machen, aber die Ministerpräsidenten der Länder nutzen ihre Exekutivrechte. Markus Söder in Bayern agiert eher schnell und forsch, Armin Laschet in Nordrhein-Westfalen eher zögerlich und die Grundrechte der Bürger weniger beschneidend. Der Spagat zwischen Freiheit und Sicherheit muss immer wieder neu austariert werden.

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat kürzlich in einem Interview im Tagesspiegel (am 26.04.2020) erst darauf hingewiesen, dass nicht alles andere vor dem Schutz von Leben zurücktreten muss: »Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen«. »Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen. « Wolfgang Schäuble weist damit in bester Tradition Ludwig Erhards auf das richtige Maß hin. Die inländischen Hilfsprogramme sprengen inzwischen jeden vernünftigen Rahmen und sind weltweit einzigartig. Sie erreichen 35% des Bruttoinlandsprodukts (China kommt nur auf 4,8% und die USA auf 9,9% nach einer Übersicht im Handelsblatt vom 24.04.2020, S. 47). Damit hat sich Deutschland spätestens jetzt von Ludwig Erhards wirtschaftspolitischen Leitlinien verabschiedet.

Neben den voraussichtlich noch länger bestehenden Grundrechtseinschränkungen wird auch ein neuer ›Soli‹ und eine einmalige Vermögensabgabe, eine Art ›Lastenausgleich‹ wie nach dem 2. Weltkrieg, durch den Corona-Virus diskutiert. Die Frage ›Wer soll das bezahlen?‹ ist damit bis auf Weiteres zwar noch ungeklärt, aber der Grundtenor ist, dass die „Reichen“ – offensichtlich auch im Falle von Fehlentscheidungen der Politiker – finanziell herangezogen werden.

Wie wird es weitergehen? Die Corona-Pandemie wird uns bis auf Weiteres beschäftigen. Sorgen bereitet nicht nur der Virus selbst, auch der zunehmende Streit zwischen den europäischen Mitgliedstaaten.

Nationale Lösungen dominieren, auf die Nachbarn wird wenig Rücksicht genommen. Aber der starke Staat, vor allem wenn er von oben steuern will, überzeugt nicht. Der Zentralstaat schafft es nicht unbedingt besser Pandemien zu bewältigen, wie Frankreich zeigt. Die Jugend muss sich dafür einsetzten, dass der Rechtsstaat wieder gestärkt wird. Auch sollte sie sich mit allen politischen Mitteln gegen eine zentralstaatliche Lenkung von oben wenden und gegen den geplanten weiteren Umbau der staatlichen Rente zu ihren Lasten (dazu kommt noch was in nächster Zeit) eintreten. Subsidiarität bleibt Trumpf. Wir müssen uns angesichts der Interventionsspirale bei den Eingriffen in die Gesellschaften und den Wirtschaftskreislauf, der von offenen Grenzen abhängt, fragen, ob die EU, so wie wir sie kennen, noch zu retten ist? In dem Buch ›SOS Europa‹ wiesen Stephan Werhahn und ich sowie weitere namhafte Mitautoren bereits auf die Gefahren hin. Damals stand die europäische Uhr noch auf ›5 vor 12‹, und jetzt? Haben wir jetzt noch eine Chance, die EU wieder föderal, demokratischer und marktwirtschaftlicher zu gestalten?

Wir sollten sie unbedingt nutzen, bevor es zu spät ist.

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