Die Wettbewerbsposition der EU verbessern - der Bericht von Mario Draghi
Im Dialog mit Dr. Ulrich Horstmann
Der Draghi-Report zeigt Verbesserungsperspektiven auf. Der Plan ist zu Recht umstritten, das betrifft auch seine Finanzierung
Am 09.09.2024 wurde der so genannte „Draghi-Report“ zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit in der Europäischen Union vorgelegt. Die Veröffentlichung wurde mehrfach verschoben. Ursprünglich sollte er im Februar erscheinen, dann im Frühsommer dieses Jahres. Der Report stieß trotz des späten Veröffentlichungszeitpunktes[1] auf sehr breite Resonanz. In Deutschland wurden seine Vorschläge vor allem wegen der unklaren Finanzierung eher kritisch kommentiert.
Mario Draghi ist in der EU bestens vernetzt und gilt inoffiziell als „Cheftechnokrat des Kontinents“[2]. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hört auf ihn. Insofern sind die Prüfung und Einschätzung dieses Berichtes wichtig. Er kann für die weitere Zukunft der EU entscheidend sein. Wir haben den Bericht daher auch nicht nur „gelesen, gelacht und gelocht“. Gelacht haben wir auch nicht. Dafür ist die wirtschaftliche Situation auf dem Kontinent und jetzt in Deutschland viel zu ernst.
Der aufwendige, rund 400 Seiten umfassende Bericht wurde im Auftrag der EU-Kommission unter Führung von Ursula von der Leyen erstellt[3].
Gutachten auf Bestellung
Es handelt sich um ein bestelltes Gutachten offensichtlich eng befreundeter Politiker[4]. Die EU-Kommissionschefin ist Auftraggeberin und Nutznießerin der vorgeschlagenen Maßnahmen, die die Kompetenzkompetenz in der selbst verursachten Krise weiter ausweiten dürfte[5]. Der späte Zeitraum der Veröffentlichung war auch der Tatsache geschuldet, dass die neue Kommission, erneut unter Führung von Ursula von der Leyen, nach der Europawahl wieder installiert werden konnte. Auch darauf wies Draghi bei der Präsentation seines Berichts hin.[6]
Die Lage ist ernst, sogar sehr ernst
Der frühere EZB-Chef Mario Draghi stellte in seinem Bericht zunächst dar, inwieweit die EU international wettbewerbsfähig ist. Danach bestünde eine Produktivitäts- und Investitionslücke zwischen der EU und den USA. Europa ist in vielen Bereichen bereits Schlusslicht, vor allem in Bereichen mit Zukunftspotential. Vor diesem Hintergrund ging es dem prominenten Verfasser darum, die EU wieder wettbewerbsfähiger zu machen. So gibt es in größerem Umfang Verbesserungsnotwendigkeiten. Bei der Digitalisierung liegt die EU hinten, weit hinter den USA und Asien. Die Produktivität ist viel zu gering. Die Energiepreise sind viel zu hoch. Alte Industrien prägen den Kontinent. Der Außenhandel ist gestört, nicht nur durch den Krieg in der Ukraine. Auch das Verhältnis zu China hat sich deutlich verschlechtert. Jetzt müsste man auch mehr für die gemeinsame Sicherheit investieren.
Dazu sind aus Sicht von Draghi jährlich zusätzlich Finanzmittel in Höhe von 750 Mrd. bis 800 Mrd. Euro erforderlich. Das ist nicht wenig. Das entspricht in etwa 5% der gesamten Wirtschaftsleistung der EU. Das ist weit mehr als für den Marshall-Plan, den Mario Draghi als Referenz nannte. Um den Finanzierungsspielraum für die ambitionierten Projekte auszubauen, ist über die Geldzuweisungen von den Einzelstaaten seines Erachtens eine zusätzliche Finanzierung notwendig[7].
Auch soll man in der EU eine eigene Vermögens- und Schuldenverwaltung im Rahmen einer vertieften Kapitalmarktunion umsetzen. Das ist ein heikles Thema, zumal sich Staaten wie Deutschland immer wieder dagegenstellen. Es würde u.E. auch dem Subsidiaritätsgedanken widersprechen. Die EU ist kein Staat, sondern erhält nur delegierte Macht von den Einzelstaaten in der EU.
Richtiges Thema, aber fragwürdige Klimaschutzvorgabe
Richtig ist auf jeden Fall das Thema, das sich Draghi gestellt hat. Insofern ist der Bericht auch u.E. zu begrüßen. Jetzt wissen wir besser, wo wir stehen und besser werden müssen. Die Wettbewerbsfähigkeit der Union ist tatsächlich wichtig, der Green Deal tritt inzwischen in der Berichterstattung sogar in den Hintergrund. Das ist aber nur vordergründig. Die Kommissionspräsidenten bestand darauf, dass der Draghi-Plan den bestehen „Green Deal“ unangetastet lässt. Dazu ihr Statement im Wortlaut:
„Erstens können wir unsere langfristige Wettbewerbsfähigkeit nur durch eine Abwendung von fossilen Brennstoffen und durch eine Hinwendung zu einer sauberen und wettbewerbsfähigen Kreislaufwirtschaft gewährleisten. Zweitens müssen unsere Bemühungen um Wettbewerbsfähigkeit Hand in Hand mit steigendem Wohlstand für alle in Europa einhergehen.“[8]
Das hier ein Widerspruch besteht, ist offensichtlich. Dass die Abkehr von fossilen Brennstoffen Geld kostet ist, einfach nachvollziehbar und wenig bestritten. Das der Umbau kostenträchtig ist, wird derzeit in Deutschland besonders deutlich. Die Wettbewerbsfähigkeit verschlechtert sich zur Zeit massiv. Um zumindest optisch Erfolge vorzuweisen, will man in der EU die fossilen Märkte noch mehr als bisher von den Erneuerbaren Märkten entkoppeln. Das könnte ein Indiz für noch mehr Lenkungswirtschaft sein.
Die hohen Energiepreise müssen im Zweifel durch mehr Einsatz von Atomstrom bekämpft werden sowie den weiteren Ausbau der Erneuerbaren. Für Deutschland bleibt dies teuer, da man bis auf Weiteres daran festhält, keine Kernkraft zu nutzen.
Die positiven Aspekte in dem Bericht, die uns auffielen, waren:
- Bürokratieabbau und die Forderung nach mehr Subsidiarität. Mario Draghi wies darauf hin, dass die EU 13.000 Gesetzesakte seit 2019 erlassen hätte, verglichen mit 5.000 in den USA. Das ist vor allem für kleinere Unternehmen schädlich, junge Pionierunternehmen wandern deswegen in die USA ab. Das Problem ist also erkannt. Auch die Subsidiarität soll wieder stärker berücksichtigt werden, auch wenn dies angesichts des planerischen Aktionismus der Protagonisten und der Entwicklungen in der EU in jüngster Vergangenheit nicht glaubwürdig wirkt (Parole, Parole, Parole).
- Für die Automobilwirtschaft soll es wieder mehr Freiheiten geben. Mario Draghi will das Verbrennungsmotorverbot ab dem Jahr 2035 kippen. Er plädiert u.E. richtigerweise für technologieneutrale Lösungen.
Draghis Ideen sind vielfältig, viele sind auch diskutabel. Ohne genauere Prüfung sollten sie nicht einfach abgelehnt werden. Weniger Gängelung und Bürokratie wäre für die Wirtschaft, vor allem für Mittelständler und Startups auf jeden Fall vorteilhaft.
Gemeinsame Schuldenfinanzierung wird zum Zankapfel
Mit der Frage der gemeinsamen Schuldenfinanzierung wird die Bundesregierung aber in die Enge getrieben. Die finanzielle Situation in Italien und Frankreich könnte viel schlechter als offiziell bekannt sein. Vor allem in Italien ist die Situation angespannt. Mit gemeinsamen EU-Schulden könnte einem vorzeitigen Staatsbankrott vorgebeugt werden. Er käme dann zehn Jahre später und würde die ganze Union, auch Deutschland als Hauptbonitätsgaranten absehbar mit herunterziehen. Das ist der falsche Weg. Er wäre auch nicht föderal und beachtet den mit viel Mühen ausgearbeiteten Stabilitätspakt nicht. Er war, wenn man so will, der Preis für die temporär von deutscher Seite geduldete Schuldenvergemeinschaftung. Sie war und ist auch vom Maastricht Vertrag nicht gedeckt.
Fazit und Einschätzung
Mario Draghi, „Mr. Whatever it takes“ hat schon als Chef der EZB bewiesen, das er die EU und den Euro vor einem drohenden Zusammenbruch retten kann. Damals, 2012, ging es um die Glaubwürdigkeit, dass die EZB alles, aber auch wirklich alles tut, um die Eurokrise zu meistern. Wenn sich jetzt Mario Draghi wieder öffentlichkeitswirksam zu Wort meldet, ist dies bemerkenswert. Er drängt auf schnelle Umsetzung seines Plans.
Der Vergleich mit dem Marshallplan, den Mario Draghi bemüht, ist u.E. nicht stichhaltig. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Wirtschaft in Europa wirklich sehr weitgehend zerstört. Es ging um viel weniger Geld und die Hilfen waren – zumindest aus deutscher Sicht – eher symbolischer Natur. Es ging immer um Hilfe für den Neustart und nicht, wie jetzt zu befürchten ist, um den Einstieg in eine gemeinsame EU-Schuldenunion. Sie könnte nicht zuletzt Italien vor steigende Finanzierungskosten und bis auf Weiteres vor einem möglichen Staatsbankrott bewahren. Da kommt die Frage auf, ob der Plan ein ernsthaftes Bemühen um mehr Wettbewerbsfähigkeit (das sicher auch) oder der gut getarnte Versuch einer erneuten Konkursverschleppung ist. Die Schuldenkrise in der EU besteht inzwischen schon mindestens seit 2012 und immer neue Finanzierungstricks kamen letztlich der Realwirtschaft nicht zu Gute.
Es geht eben auch und wohl in erster Linie um das Budgetrecht der EU. Bislang hat die Europäische Union keine gesicherte eigene Einnahmenquelle. Der EU-Haushalt wird finanziert über die Einzelstaaten, die bislang vollumfänglich das Budgetrecht besitzen. Der Corona-Wiederaufbaufonds galt als einmalig und kann nicht verlängert werden. Das Bundesverfassungsgericht hat ihm nur unter der Bedingung durchgewunken, dass er einmalig und begrenzt bleibt. Alle EU-Staaten müssten einer gemeinschaftlichen Finanzierung zustimmen, nicht zuletzt Deutschland[9].
Vor diesem Hintergrund wird es noch viel Streit geben, ob und inwieweit der Draghi-Plan umgesetzt wird. Sollte die Bundesregierung einer weiteren Schulden Vergemeinschaftung in der EU zustimmen, droht eine Herabstufung des inländischen Triple-A-Ratings. Die schwache ökonomische Konstitution und die reine Vertragspartnerschaft Europas geben das kaum her, auf die Dauer ohnehin nicht. Soll das die nächste Generation zurückzahlen? Wie soll das glaubwürdig funktionieren?
Auch das inländische Verfassungsgericht müsste – schon wegen der bereits formulierten Einschränkungen beim Corona Wiederaufbaufonds – das Vorhaben einer dauerhaften Schuldenvergemeinschaftung stoppen. Daher sollte sich die Bundesregierung selbst im Falle einer zunehmenden Isolierung in Europa gegen gemeinsame Obligationen der EU sperren. Selbst Angela Merkel blieb hier immer hart.
Es wäre auch nicht problematisch, wenn der Draghi-Plan so nicht umsetzbar wäre. Ludwig Erhard würde sich angesichts eines zu planwirtschaftlichen-technokratischen Ansatzes vermutlich im Grabe umdrehen. Einer Vergemeinschaftung von Schulden hätte er nie das Wort geredet. Für ihn standen Freiheit und Eigenverantwortung im Vordergrund. Ohne die bereits bestehende Bürokratie hätte es auch in Deutschland und der übrigen EU wohl auch mehr erfolgreiche Startups gegeben, die nicht in die USA abwandern. Eine zentral gesteuerte machtvolle Bürokratie, eine grüne Industriepolitik[10], die künstlich Wachstum produzieren will, wäre sicher nicht im Sinne Ludwig Erhards gewesen.
Gute Rezepte sind so einfach. Die EU unter der derzeitigen Führung muss noch nachbessern. Bislang verhedderte sie sich im Klein-Klein bei falschen planwirtschaftlich grünen Plänen. Sie wurde bei der letzten Europawahl abgestraft und dürfte dennoch ihre grüne Transformations-Agenda[11] fortsetzen, das war auch die Vorgabe für den von Mario Draghi vorgestellten Plan. Einzufordern wäre jetzt mehr fairer Wettbewerb mit weniger Bürokratie ohne teure Nebenbedingungen. Ein kostenträchtige und von oben gesteuerte grüne Transformation wäre demokratisch fragwürdig und inhaltlich falsch.
IEM-Team, 20.09.2024
[1] die Problematik der mangelnden Wettbewerbsfähigkeit war zwischenzeitlich schon viel diskutiert worden und nicht mehr so neu.
[2] Vgl.: Can anything spark Europe’s economy back to life?, economist.com, 09.09.2024, download: https://www.economist.com/finance-and-economics/2024/09/09/can-anything-spark-europes-economy-back-to-life, siehe auch: Mario Draghi outlines his plan to make Europe more competitive, economist.com, 09.09.2024, download: competitive https://www.economist.com/by-invitation/2024/09/09/mario-draghi-outlines-his-plan-to-make-europe-more-competitive, jeweils abgerufen am 17.09.2024.
[3] Der Bericht ist unter folgenden Links abrufbar: https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en, https://commission.europa.eu/topics/strengthening-european-competitiveness/eu-competitiveness-looking-ahead_en, jeweils abgerufen am 17.09.2024.
[4] Ursula von der Leyen sprach bei der Präsentation des Berichts sehr vertraulich mit ihm und verzichtete auf eine förmliche Vorstellung, „wir wissen, wer Mario Draghi ist“ und bezeichnete ihn bei der Begrüßung als „lieben Mario“, hier der Link zur Präsentation: https://www.youtube.com/watch?v=aSWGTmoO72g, abgerufen am 18.09.2024 (Vorstellung von Mario Draghi in der ersten Minute).
[5] Ein wirklich unabhängiges Gutachten wäre hier glaubwürdiger gewesen, Mario Draghi ist nicht neutral, sondern selbst Gestalter in der EU. Der Bericht ist insofern auch „embedded“ in die bestehenden EU-Strukturen.
[6] Die Präsentation ist mit deutscher Übersetzung und ohne Werbungsunterbrechungen unter dem bereits oben genannten Link verfügbar: https://www.youtube.com/watch?v=aSWGTmoO72g, abgerufen am 18.09.2024.
[7] Vgl. dazu auch: Hendrik Kafsack, Werner Mussler: Draghis Investitionsplan, faz.net, 10.09.2024.
[8] Vgl. und zitiert aus: on der Leyen zum Draghi-Bericht: Wettbewerbsfähigkeit gehört ganz oben auf unsere Tagesordnung, germany.representation.ec.europa.eu, 09.09.2024, download: https://germany.representation.ec.europa.eu/news/von-der-leyen-zum-draghi-bericht-wettbewerbsfahigkeit-gehort-ganz-oben-auf-unsere-tagesordnung-2024-09-09_de, abgerufen am 18.09.2024.
[9] Für Finanzminister Christian Lindner sind die Pläne eine Totgeburt: Sie liefen seines Erachtens darauf hinaus, dass Deutschland für andere zahle: „Das kann kein Masterplan für die Europäische Union sein. Da sollte schon jeder Staat für seine eigenen Staatsfinanzen die Verantwortung übernehmen.“, vgl. und zitiert aus: Hannes Vogel: Draghi hat einen Plan: Brüssel will Europa mit der Schuldenunion retten, ntv.de, 15.09.2024, download: https://www.n-tv.de/wirtschaft/Bruessel-will-Europa-mit-der-Schuldenunion-retten-article25225586.html, abgerufen am 18.09.2024.
[10] Vgl. die neue Zusammensetzung der EU-Kommission, dazu: Hendrik Kafsack, Werner Mussler: Von der Leyen setzt voll auf Industriepolitik, FAZ, 19.09.2024, S. 2.
[11] vgl. zur Amtsführung von Ursula von der Leyen: Antonio Fumagalli: Von der Leyen provoziert einen Eklat, Neue Zürcher Zeitung, 17.09.2024, S. 2, Thomas Gutschker: Distanz zu den Staaten, nah am Parlament, FAZ, 18.09.2024, S. 2.